Liebe Scheffel-Preis-Rede-Interessierte, die Sie es auf die Homepage geschafft haben…

Bitte stellen Sie sich für einen Moment einen Siebenjährigen vor. Heute ist seine Einschulung. Herausgeputzt und frisch vom Friseur hält er in seinen kleinen Kinderhänden eine prall gefüllte, bunte Schultüte. Ein Grund zur Freude, ein Grund zum Feiern – und trotzdem weint er. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Schultag? An Ihre Schulzeit? Ihre Abschlussfeier?

Nachdem alle Gäste nach der Einschulungsfeier heimgegangen waren, habe ich an dem Abend vor meinem ersten Schultag meiner Familie Folgendes verkündet: Nur damit ihr es wisst, ich gehe morgen da nicht hin. Damals erschien mir diese Entscheidung die Lösung für meine große Angst vor einem neuen Lebensabschnitt zu sein. Meine Idee, von Anfang an für klare Verhältnisse zu sorgen, war, Sie können es sich schon denken, nicht von Erfolg gekrönt.

Heute, 13 Jahre später, halte ich keine Schultüte weinend in den Händen. 13 Jahre später wird mir der Scheffel-Preis überreicht und ich darf diese Rede schreiben. Ich freue mich sehr darüber, fühle mich geehrt, bin stolz, gerührt und dankbar.

Da die Scheffel-Preis-Rede dieses Jahr auf die Homepage geladen wird, habe ich die Chance bekommen, sie ein wenig individueller zu gestalten, ihr eine andere Struktur bzw. Form zu geben. Was ich damit meine, ist, dass ich den Hauptteil meiner Rede mit einem Text, den ich in der Kursstufe geschrieben habe, füllen werde.

Dabei gilt mein großer Dank Frau Horn, meiner Tutorin und Deutschlehrerin. Sie wurde nie müde, uns darin zu bestärken, einen eigenen Zugang zu Werken wie „Woyzeck“, „Der Verlorene“, „Agnes“, „Corpus Delicti“ und vielen anderen mehr zu finden. Begleitet von ihr fanden wir unseren eigenen Stil, gingen unseren eigenen Weg. Danke, Frau Horn, dass wir in Ihnen einen offenen, verständnisvollen und zeitgewährenden Menschen gefunden haben. Danke, dass Sie mir E.T.A. Hoffmanns, Georg Büchners und Franz Kafkas Werke in die Hand gedrückt haben.

Liebe Scheffel-Preis-Rede-Interessierte! An dieser Stelle fühlt es sich für mich richtig an, meine Rede vor allem an alle Alumni-Werdenden des EBGs zu richten und die „politischen“ oder „gesellschaftlichen (Welt-) Themen“ anderen zu überlassen. Mir persönlich geht es ums Lesen und Schreiben. Deshalb folgt hier ein Appell: Lest, lest, was das Zeug hält! Findet Werke, die euch nicht mehr loslassen! Sprecht darüber! Zerredet aber nicht alles! Versinkt darin und lasst das Gelesene auf euch wirken! Hört euren Mitmenschen zu! Beobachtet die Welt um euch! Lest zwischen den Zeilen! Schaut dahinter! Lasst euch berühren! Interessiert euch für den Menschen hinter dem Autor! Recherchiert! Erinnert euch! Und wenn ihr angefüllt seid mit all diesen neuen, alten, verdrängten und vergessenen Eindrücken, versinkt darin und schreibt! Lasst euch von stockenden Phasen nicht stoppen! Lasst euren Text liegen, achtet darauf, was in euch vorgeht, horcht in euch hinein, löscht nichts aus einer Laune heraus! Ein leeres Blatt Papier verschafft euch den Raum für eure ganz eigene Stimme, möge sie sonst noch so still und ungehört im Alltag sein. Nutzt diesen Raum! Träumt mit offenen Augen!

Meine Stärke ist das Erzählen, die Prosa, das Lesen. Das ist meins. Vielleicht ist es auch eures? Vielleicht ist es aber auch die Lyrik oder das Drama? Traut euch!

Ich lade Euch, ich lade Sie herzlich zum Lesen ein.

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Unerreichbar nah

Ich sitze im Auto neben dem Fahrer. Wir sind auf der Autobahn und mein Blick aus dem Seitenfenster zeigt mir keine Landschaft mehr. Die Bäume verschwimmen zu langgezogenen Schlieren, bis nur noch Grüntöne in allen Nuancen übrigbleiben, als hätte sich hinter den kalten, grauen Leitplanken ein mir unbekannter Maler mit festem Pinselduktus verewigt. Gesprenkelt von gelegentlichen roten und weißen Zwischentönen, von denen ich weiß, dass es nur Häuser sein können. Die Landschaft ist hier noch mehr Natur als dort, wo ich jetzt lebe. Der Maler macht vor meinem Gesicht nicht halt. Meine aufgesetzte Maske verläuft. Ich weine. Kindheitserinnerungen flackern auf, als hätte ich mein Leben zurückgespult, um erneut auf den Startknopf zu drücken. Ich kehre zurück.

Ich bin klein. Ich bin zwei Jahre alt und ich halte nicht ihn fest. Nein, es scheint so, als würde er mich festhalten. Sein Fell ist jetzt noch strahlend weiß und um den Hals trägt er einen roten Schal. Seine schwarze Nase bildet ein Dreieck mit Augen, die aussehen wie kleine Kohlen aus dem Keller meiner Urgroßeltern. Die Leute, die mir begegnen, versuchen über ihn Kontakt zu mir aufzunehmen, fragen mich, wen ich denn da im Arm hätte. Ich bediene mich dem Einwortsatz und antworte: „Eisbär.“ Eisbär als Name reicht, wo er doch genau das ist. Ich bin schüchtern. Er ist nur ein klein wenig mutiger als ich und streckt ihnen mit meiner Hilfe seine Nasenspitze entgegen. Das reicht schon. Wenn ich Eisbär sage, hört es sich so an, als würde ich Aschbär sagen. Die Leute wiederholen den Namen gern. Aschbär sagen sie dann, das ist annehmbar für mich. Manche aber hören Arschbär und wiederholen das auch. Das finde ich blöd, weil ich dann Nein sagen und seinen Namen wiederholen muss. Unter Umständen geht das dann eine Weile hin und her. Wie beim Ping Pong hüpft der gedachte Eisbär über den gesprochenen Aschbär zum gehörten Arschbär. Meine große Schwester steht mir bei und wiederholt dann seinen Namen. Sie wird verstanden und zerzaust mir liebevoll das Haar. Mein Mund macht lautlos Trockenübungen: Eisbär, Eisssbär, ganz schön knifflig. Eisbär ist überall mit dabei, er macht alles mit, er ist immer da. Inzwischen ist sein Fell mehr grau als weiß und sein roter Schal zeigt eine unzuverlässige Seite. Er hat die Neigung, ein Eigenleben zu entwickeln und sich davonzustehlen. Wir finden ihn aber immer. Immer blitzt er irgendwo hervor oder liegt verlassen auf der Treppe. Später, in meiner magischen Phase steckend, denke ich, er macht das mit Absicht und schimpfe mit ihm. Manchmal denke ich aber auch, es ist vielleicht Eisbär, der den Schal abstreift und irgendwo liegen lässt, so wie ich mit meiner Andenmütze, die für immer verloren gegangen ist. Sie hat mir die Ohren abgedeckt und ich habe noch weniger gehört. Ich bin froh, dass sie weg ist. Wenn ich Eisbär verlieren würde, dann wäre es, als würde ich ein Stück Geborgenheit verlieren. Meine Familie nimmt das auch wahr. Jahre später mache ich eine Schranktür auf und dort sitzt Eisbär, schneeweiß, mit einem ordentlich gebundenen Schal, und schaut mich mit fremden Augen an. Ich drehe mich zum Bett. Zwei Eisbären dämmert es mir. Einer, der durch Liebe gekennzeichnet ist und während vieler Schleudergänge dem Waschen getrotzt hat, der andere ist neu, unberührt, fremd. Er sitzt da wie ein Klon und starrt mich durch transparente Folie an. Eisbär hat einen Doppelgänger. Das war die Lösung meiner Familie, falls er verloren gegangen wäre. Später erzählen sie mir, dass sie eine Weile gebraucht hätten, um den fremden Eisbären zu finden. Sie hatten Angst. Sie dachten, dass sie eine Art Backup bräuchten. Ich hätte ihn nie akzeptiert. Ich weiß nicht, wo er ist, in welchen Untiefen des Schrankes er untergetaucht ist. Der echte Eisbär ist inzwischen in der Erinnerungskiste. Dort kommen nur Schätze rein. Manchmal bin ich auf den Dachboden geschlichen und habe meine Nase tief in sein Fell gedrückt. Das ist Kindheit, in diesem Moment heraufbeschworen und damit unvergesslich. Jetzt kehre ich heim.

Wir halten an einer Tankstelle. Hier ist es so windig, dass ich am liebsten wieder ins Auto steigen würde. Es regnet und die Kälte kriecht in die Glieder der Reisenden. Sie boykottiert das Strecken und Dehnen, um den Körper aus seiner Starre zu befreien. Ich hüpfe ein bisschen in der Gegend herum. Anstatt Hampelmänner zu machen, wirkt es so, als würde ich mich selbst zum Hampelmann machen. Ich schüttle den Kopf, schüttle viel ab, aber nicht alles. Wann war ich das letzte Mal dort? Wann habe ich sie das letzte Mal gesehen? Diffuse Gedankenschwaden vernebeln undurchdringlich die Wahrheit. Meine Finger umklammern den heißen Becher, Kaffee-to-Go, und bleiben doch kalt. Wir fahren weiter. Um zurückzukehren, muss man erst gehen. Der Maler malt weiter. Er behält seinen Pinselduktus bei. Alles verschwimmt. Die Vergangenheit bemächtigt sich von Neuem meiner Gedanken.

Sitzend auf dem blauen Sofa mit den dicken Kissen, geht mein Murmelsäckchen auf. Oh, die Murmeln, wie sie kullern, die großen, die kleinen und die eigentlichen Murmeln, die alten, die es laut meiner Großeltern früher nur gab. Sie verteilen sich so schnell und in alle Richtungen, dass ich ihnen mit den Augen nicht mehr folgen kann. Eine nach der anderen sammle ich wieder ein. Ich spiele gerne mit Murmeln. Baue mir kreative Bahnen, die sich kreuz und quer durchs Zimmer ziehen. Ich schaue unter dem Sofa nach, meine Glücksmurmel fehlt. Meine wandernden Augen suchen den ganzen Boden ab. Ich finde sie nicht. Gefrustet setze ich mich aufs Sofa und sehe etwas aufleuchten. Sie liegt genau im Spalt zwischen Rückenlehne und Sitzfläche. Durch mein schwungvolles Platznehmen ist sie noch tiefer hineingerutscht. Ganz vorsichtig stehe ich auf. Jetzt sind langsame Bewegungen gefragt. Vorsichtig nähern sich Daumen und Zeigefinger im Pinzettengriff dieser wunderschönen mitternachtsblauen Murmel. Ich ermahne mich selbst: Nur keine Hektik, konzentriert und kontrolliert. Meine Fingerspitzen streifen Glas, schnippen die Murmel eher, als sie zu ergreifen, und treffen leer aufeinander. Die Murmel verschwindet noch tiefer im Spalt, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Panik macht sich breit und lenkt jede kommende Handlung. Meine Hand verfolgt den Weg der Murmel und findet sie nicht. Meine Finger sind blind. Tastend erkundigen sie alle möglichen Nischen und Ecken. Nichts. Sie fühlen Stoff, Holz und Bereiche, die leer zu sein scheinen. Das blaue Sofa ist so hohl, denke ich mir. Es hat meine Murmel verschluckt und scheint sie nicht wiederhergeben zu wollen. Das blaue Sofa denkt vielleicht, es sei eine Muschel. Vielleicht kommt nach einiger Zeit anstatt meiner Murmel eine mitternachtsblaue Perle zum Vorschein. Meine Eltern finden die Idee lustig. Meine Schwester sagt lachend, vielleicht sei sie in Wirklichkeit die „Prinzessin auf der Erbse“ und könne jetzt nie wieder gemütlich auf dem blauen Sofa sitzen. Ich frage mich: Was ist, wenn es mich verschluckt, während ich nichtsahnend darauf sitze und lese? Das Buch würde es verschmähen, weil es ihm nicht mundet. Es wäre schließlich kein buntes Stoffmusterbuch für einen neuen Bezug. Meine Familie würde nur mein aufgeklapptes Buch finden. Das wäre es dann mit mir. Jahre später muss das blaue Sofa einer schicken braunen Ledercouch weichen. Die Möbelpacker, die die neue Couch anliefern, nehmen das alte gefräßige Ding mit. Wer weiß, was es sonst noch verschluckt hat. Sehnsüchtig schaue ich ihnen nach. Trotz, dass ich meine Murmel verloren hatte, war sie die ganze Zeit über noch da. Sie blieb für mich unerreichbar im blauen Sofa. Jetzt ist sie endgültig weg.

Die Fahrt ist lang. Wir haben nicht einmal ein Viertel der Strecke geschafft und doch fühlt es sich an, als wären wir schon mehrere Tage unterwegs. Die Müdigkeitserkennung des Autos schlägt immer wieder Alarm. Die Person am Steuer wechselt und trotzdem scheint das Warnsystem nicht zufrieden. Wahrscheinlich kann es Trauer nicht von Müdigkeit unterscheiden. Wir stoppen an der nächsten Raststelle. Der Regen hat aufgehört. Oben auf den Gipfeln und Kämmen sieht man Schnee. Das Bergpanorama ist atemberaubend schön. Die Berge sehen so aus, als wären sie schon immer hier gewesen. Aber so ist es nicht. Früher war hier das Meer und erst später wurden sie himmelhoch aufgeschichtet. Die hierfür benötigte Kraft übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Die Zeit nagt auch an ihnen. Hebung kontra Abtragung. Ich muss an eine andere Fahrt denken, die dieser sehr ähnlich scheint. Ich dachte damals, wir kommen niemals lebend an, weinen und Autofahren verträgt sich schlecht.

Die letzte Woche der Sommerferien hat begonnen. Wir sind schon wieder daheim. Sitzen im Garten und erzählen uns, was wir die letzten drei Wochen erlebt haben, obwohl alle hier Anwesenden in dieser Zeit anwesend waren. Als das Telefon klingelt, erbarmt sich mein Vater und geht ins Haus, um den Anruf entgegenzunehmen. Wir freuen uns über die Vielfalt der Libellen an unserem Gartenteich und lachen, als meine Schwester die Geschichte, wie mein Vater letzten Herbst den Teich winterfest machen wollte und dabei ausgerutscht und in den Teich gefallen ist, zum Besten gibt. Wie die Zeit vergeht. Schon bald ist es wieder Herbst. Hinter uns nähern sich knirschende Schritte. Freudig drehen wir uns zu meinem Vater, die Frage „Wer war es?“ sterbend auf den Lippen, sobald wir sein Gesicht erblicken. Er scheint um 10 Jahre gealtert. Er weint. Sein Körper bebt vor Trauer. Stockend entlocken wir ihm den Tod seines Vaters, meines geliebten Opas. Jedes Kind braucht so einen Opa, der immer ein klein wenig mehr zu einem hält als zu den anderen Enkelkindern. Der morgens aufsteht und frische Brötchen holt, weil er weiß, dass man die so gerne isst. Der einem fingerdick Schokocreme trotz des missbilligenden Blicks der Eltern aufs Brötchen schmiert. Der einen verabschiedet mit den Worten: „Wenn dein Papa zu streng mit dir ist, dann ruf mich an, ich kläre das dann. Schließlich bin ich der Papa des Papas.“ Er hat ein verschmitztes Lächeln im Gesicht, das ihn wie einen viel zu großen Lausbuben aussehen lässt. Mein Opa ist tot. Es ist noch gar nicht lange her, dass wir uns von ihm verabschiedet haben. Nun fahren wir zu seinem Begräbnis. Ich verstehe das Wort „tot“ bzw. „Tod“ nicht. Also frage ich auf der Hinfahrt: „Ist Opa da?“ Antwort: „Ja. Er ist noch da.“ Ich: „Aber dann ist doch alles gut.“ Meine Mutter: „Opa ist von uns gegangen.“ Ich: „Wohin ist er gegangen? Aber wie kann er gleichzeitig da sein und doch weg?“ Tausend Fragen sind in meinem Kopf. Ich verstehe das nicht, aber meine Eltern sind in ihrer Trauer gefangen und dort unerreichbar für mich. Mein Gefühl, ich bekomme hier eine Art Verlängerung der Sommerferien, löst sich in dem Moment auf, als wir das Haus meines Opas betreten. Überall sind Leute in Schwarz, die traurig schauen oder weinen. Ich werde einfach mitgezogen, obwohl ich nicht so richtig weiß, wie mir geschieht. Ich suche ihn. Zwischen all den Leuten, die zu einer Trauermasse verschmelzen, finde ich ihn. Er liegt schön zurechtgemacht in seinem Bett und sieht friedlich aus, als würde er einen Mittagschlaf machen. Jetzt verstehe ich, was da und doch weg bedeutet. Das ist mein Opa und doch ist er es nicht. Immer mehr Leute kommen, um sich zu verabschieden. Meine Oma küsst ihn auf die Stirn. Ich frage mich, ob ich das auch tun muss, ob sie das von mir auch verlangen. Je länger ich hier stehe und ihn anschaue, desto mehr fange ich an zu fremdeln. Mein Opa ist das nicht. Ich frage meine Mutter, sie beruhigt mich und sagt, dass sich jeder so verabschieden kann, wie er das möchte. Ich möchte keinen Kuss auf eine Stirn geben, von der ich ahne, dass sie sich anders anfühlen wird als sonst. Ich kann nicht richtig atmen. Das alles ist zu viel. Ich will raus in die Sonne, mit den anderen Kindern spielen. Aber ich bin zur Salzsäule erstarrt. Ich liebe Märchen. Mir fällt Schneewittchen ein und ich frage mich: Was ist, wenn mein Opa nur durch meinen Kuss wieder zum Leben erweckt werden kann? Der Gedanke ist eine erdrückende Vorstellung. Meine Schwester zieht mich nach draußen, in den Garten. Hinter dem Haus stehen Sträucher voller Johannisbeeren, die mein Opa extra für uns Kinder angepflanzt hat. Hier steckt Opa drin und seine bedingungslose Liebe. Wir pflücken die kleinen sauren Früchte und lachen über unsere verschmierten Gesichter, die aussehen, als hätte uns jemand versucht, ein Clownslachen aufzumalen. Hier, an dieser Stelle, ist meine Welt in Ordnung. Kurze Zeit später setzen sich die Sargträger in Bewegung. Lachend und hüpfend, begleitet von wohlwollenden und verständnisvollen Blicken der Erwachsenen, laufen wir inmitten des Trauerzugs mit. Mein Vater wird nach unserer Rückkehr ein ganzes Jahr lang nur Schwarz tragen und auf dem bis dahin glatt rasierten Gesicht wird nach dieser Zeit ein stattlicher Bart stehen.

Ich fasse an mein Kinn und meine Hand fährt über Stoppeln, die sich wie ein kleines Reibeisen anfühlen. Wir sind fast am Ziel. Die Dunkelheit hat sich über den Maler und seinen Pinselduktus gelegt. Lichter blitzen immer wieder darin auf. Wir fahren von der Autobahn ab. Während ich mich vom Motorengeräusch einlullen lasse, denke ich, das Menschsein birgt viele Verluste. Manche davon sind unwiederbringlich, andere verkehren sich ins Wiederfinden. Manche wiederum sind verloren und lassen uns angefüllt mit Liebe und wertvollen Erinnerungen zurück. Manches hören wir nie auf zu suchen, unsere Gedanken kehren immer wieder zu ihnen zurück, und dann gibt es die Dinge, über deren Verlust wir froh sind und uns befreit fühlen. Einige werden wir nie vergessen. Der Mensch denkt, er hat alle Zeit der Welt. Aber das ist ein Trugschluss. Momo hieß unsere erste Katze. Michael Endes Momo bringt den Menschen ihre verlorene Zeit wieder zurück. Unsere Momo verfügte nicht über ein solches Können und Zeitdiebe holten sie am Ende viel zu früh von uns. Meine Schwester war untröstlich. Meine Eltern wussten nicht mehr weiter. Ich habe ihre Trauer kaum ausgehalten. Lange Zeit später war sie bereit, mit uns ins Tierheim zu gehen. Dort fanden wir Leni. Leni, die selbst gefunden und dort abgegeben worden war. Die Vermittlung erfolgt bei einem Fundtier unter Vorbehalt. Wir nahmen sie mit nach Hause. Ängstlich hoffend, dass sie uns nicht wieder genommen wird, weil sich der eigentliche Besitzer meldet. Die Hände in Lenis Fell zu vergraben, war pures Nachhausekommen. Irgendwann einmal fiel sie von der Teichmauer. Der Weg war zu kurz, sodass sie sich nicht rechtzeitig drehen konnte und dabei einen Reißzahn, eher Reißzähnchen, verlor. Sie bekam von uns den Beinamen „Ohne-Zahn“, nach dem Drachen aus „Drachen zähmen leicht gemacht“. Manchmal hätte ich meine Oma am liebsten auch „Ohne-Zahn“ genannt, vor allem wenn sich ihr Gebiss beim Essen klappernd vom Oberkiefer verabschiedete, aber mein alter Herr sagte, ich solle sie lieber nicht so nennen. Das würde sie verletzen.

Wir sind da. Ich steige aus, obwohl ich kaum hochkomme. Meine Schritte sind so schwer, dass ich das Gefühl habe, ein Mafiaboss hätte sie mir fest in Beton gegossen, um mich im Hafenbecken zu ertränken. Als mich die Nachricht meiner Eltern erreichte, war es so, als ob mir jemand mit voller Wucht in den Magen boxt. Meine Eingeweide drehten sich nach außen, um die Botschaft loszuwerden, die ich nicht wahrhaben wollte. Nun bin ich zuhause. Während ich mich auf die Haustüre zubewege, die aus uraltem, schwerem Hartholz schon von Generationen vor mir geöffnet und geschlossen wurde, frage ich mich, wie selbstbestimmt der eigene Tod sein darf. Ich fühle mich verlassen. Schuldgefühle lauern in jedem Gedankengang. Was habe ich übersehen? Hätte ich es verhindern können? Ich gehöre einem Kollektiv der Selbstvorwürfe an. Auf der restaurierten Kommode im Eingangsbereich liegt ein Brief für mich, mein Name steht in ihrer leicht kantigen Schrift auf dem Umschlag. Daneben liegt ein kleiner Beutel aus weinrotem Samt, die goldene Kordel zur Schleife gebunden. Ich öffne den Umschlag und ziehe ein einzelnes Blatt hervor. Meine Hände zittern dermaßen, dass die Buchstaben zu tanzen scheinen.

Mein lieber Paul,

was haben wir als Kinder nicht alles verloren, aber auch wiedergefunden. Manchmal war es auch etwas Neues anstatt des Gesuchten. Ich habe mein Leben gelebt. Letztendlich habe ich mich darin verloren. Stell dir keine quälenden Fragen. Lass mich in Frieden gehen. Wir sind reich an Erinnerungen, die niemals verschwinden. Ich weiß, dass man etwas Liebgewonnenes nicht einfach ersetzen kann. Nur der echte Eisbär hatte deine Kinderseele berührt. Manches loszulassen ist unendlich schwer und anderes kehrt dank eines beherzten Möbelpackers und seines Teppichmessers wieder zu uns zurück.

In Liebe.

Du hast deinen Namen weggelassen, als hättest du den Entschluss gefasst, ihn mitzunehmen. Meine Finger streichen über den samtenen Beutel, ziehen an der Schleife. Ich schaue hinein, kann nichts erkennen. Drehe den Beutel. In meiner Hand liegt etwas Rundes aus Glas. Mein Herz setzt aus, stolpert, kommt aus dem Takt. Tränen laufen über mein Gesicht. Trost ist gemeinsam verbrachte Zeit mit kleinen und großen Momenten. Trost ist eine mitternachtsblaue Murmel.

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Erinnern Sie sich noch an die erfolglose Ansage, die ich meinen Eltern zu Beginn meiner Schulzeit gemacht habe? An dieser Stelle möchte ich ein Geständnis ablegen. Ich gestehe, dass ich nie gerne zur Schule gegangen bin. Sie können mir glauben, das waren 13 sehr lange Jahre für mich. Lange Zeit hat mich nur das zusammenfantasierte Bild von zwei Polizisten, die mich abführen und zur Schule bringen, um die Teilnahme am Unterricht sicherzustellen, morgens aufstehen lassen. Dieses Bild wurde mit der Zeit übermalt von Lehrerinnen und Lehrern, die mich als stillen Schüler wahrnahmen und dabei viel wichtiger – als solchen auch annahmen. Hermann Gmeiner, Gründer der SOS-Kinderdörfer, sagte einmal: „Alles Große in unserer Welt geschieht nur, weil jemand mehr tut, als er muss.“ Am EBG wird sehr viel mehr getan. Vielen Dank dafür!

In meinem Text geht es darum, etwas zu verlieren und wiederzufinden, ums Abschiednehmen, Loslassen, Weitermachen, um Trost und den Tod. Alles, was wir als Kursstufe erlebt haben oder was wir gerade erleben bzw. was noch auf uns zukommt. Für manche ist die Zukunft etwas klarer als für andere von uns. Für manche ist ihr Weg deutlicher erkennbar als für andere von uns. Mögliche Stolpersteine sind für niemanden markiert und phasenweise werden wir vielleicht schwer an der Last zu tragen haben, aber was uns hoffentlich alle eint, ist, nicht dabei zu zögern, uns treu zu bleiben.

Es ist mir eine Ehre, zum Jahrgang zu gehören, der im Jahr 2024 sein Abitur geschrieben hat. Elyesa! Du lebst in unseren Erinnerungen weiter. Du wirst in unseren Gedanken einen jeden unserer Wege mit uns bestreiten.

13 Jahre sind wir zur Schule gegangen. Im 14ten Jahr aber werden wir neue Wege gehen. Es gibt nicht den einen Weg, der uns zum Ziel führt. Es gibt Umwege und Sackgassen. Manchmal gibt es aber auch Abkürzungen und Direktverbindungen. Liebe Jahrgangsstufe! Geht hinaus in die Welt, geht euren eigenen Weg! Geht, reist, beginnt euren neuen Lebensabschnitt ohne und mit Tränen, ganz wie ihr wollt! Ich werde diesmal nicht weinen. Ich werde glücklich lächeln.

Verabschieden möchte ich mich von Ihnen allen mit einem Dialog, der am Ende eines jeden Telefonats mit meinem 80-jährigen Großvater steht:

Ich: „Opa, mach’s gut!“

Mein Großvater: „Finn, mach’s besser!“

In diesem Sinne: Machen Sie es gut, und wenn Sie es gut gemacht haben, dann machen Sie es noch besser!

Finn Lukschanderl, Alumnus des EBGs

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Bild: Rafael Vater